Ortskräfte in Afghanistan
Seit dem plötzlichen Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan wird die sicherheitspolitische Lage in Afghanistan von Tag zu Tag schlechter. Die Taliban haben seit Mai bereits mehr als die Hälfte der Bezirke im Land unter ihre Kontrolle gebracht. Berichten der Vereinten Nationen zufolge, mussten bereits über 200.000 Menschen aus ihren Heimatorten fliehen. Jeden Tag sterben neben Soldat*innen der afghanischen Regierung auch Zivilist*innen im Konflikt, bei Attentaten oder durch gezielte Tötung. Besonders gefährdet sind jene, die im Kampf gegen die Taliban auf der Seite der NATO und der afghanischen Regierung standen. Ihnen droht, Opfer eines Racheaktes der Taliban zu werden. Auch die Bundeswehr beschäftigte im Laufe ihres 20-jährigen Einsatzes Afghan*innen als Übersetzer*innen, Köch*innen, Fahrer*innen oder Reinigungskräfte.
Dieser Gefahr waren sich viele bewusst, als sie sich entschlossen, den NATO-Truppen zu helfen. Denn es gibt ein Verfahren, welches ihnen die Migration in NATO-Staaten ganz legal ermöglicht. Die sogenannten Ortskräfte haben die Möglichkeit, ein Visum für eine Einreise nach Deutschland zu erhalten, wenn sie eine individuelle Gefährdung nachweisen können. Dazu müssen sie eine Gefährdungsanzeige stellen, welche daraufhin in Deutschland geprüft wird. Das Verfahren ist allerdings kompliziert und für die Ortskräfte mit hohen Kosten verbunden. Die Kriterien, nach denen entschieden wird, sind intransparent und Betroffene klagen, dass Anträge abgelehnt werden, obwohl sich viele von ihnen in einer lebensbedrohlichen Lage befinden. Darüber hinaus sind die Kontaktbüros der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Afghanistan, welche für die Antragstellung zuständig sein sollten, noch nicht in Betrieb. Anträge müssen daher in Pakistan gestellt werden. Auf Flug- und Visakosten bleiben die Ortskräfte zudem sitzen. Ein Flug nach Deutschland kostet sie etwa zwei bis fünf Monatsgehälter.
Bislang hat die Bundesregierung etwa 2.400 Visa an Ortskräfte und deren Familienangehörige erteilt. Marcus Grotian, Leiter des Patenschaftsnetzwerkes Afghanische Ortskräfte und ehemaliger Bundeswehrsoldat in Afghanistan, nimmt an, dass von diesen bislang etwa 100 Menschen in Deutschland angekommen sind und dass noch etwa 2.000 weitere Menschen Anspruch auf ein Visum haben müssten. Die Regelung umfasst allerdings nur ehemalige Angestellte des Auswärtigen Amtes, Verteidigungs-, Innen- und Entwicklungsministeriums. Mitarbeiter*innen von Subunternehmen der Bundeswehr und deutschen NGOs etwa, haben keinen Anspruch auf Ausreise nach Deutschland. Wer deutsche Entwicklungsarbeit unterstützt und bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) angestellt ist, wird bei Stellung einer Gefährdungsanzeige gekündigt. Ein Staat hat nicht nur eine Pflicht zur Achtung der Menschenrechte, wenn er selbst durch seine Organe und Institutionen handelt, sondern ist darüber hinaus dazu verpflichtet, Menschen aktiv vor Rechtsverletzungen zu schützen. Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention diktiert, dass jede Person ein Recht auf Freiheit und Sicherheit hat. Die afghanischen Ortskräfte haben eine wichtige Rolle gespielt im Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, sie haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um deutsche Interessen im Ausland durchzusetzen. Der deutsche Staat hat nun nicht nur die Möglichkeit, sondern die Pflicht zu handeln. Allen Ortskräften sollte eine schnelle und einfache Ausreise ermöglicht werden. Dann würden wir das tun, was Ortskräfte in Afghanistan zwei Jahrzehnte lang für uns taten: Unterstützen und helfen. Das gebietet nicht nur der Respekt vor diesen Menschen, ihrer Arbeit und ihrem Mut, sondern auch Deutschlands internationale Verantwortung und menschenrechtliche Verpflichtungen.
https://www.tagesschau.de/inland/ortskraefte-afghanistan-105.html, zul. abgerufen: 16.07.21
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw25-de-afghanische-ortskraefte-846934, zul. abgerufen: 16.07.21
https://www.zeit.de/news/2021-07/05/maas-abschiebungen-nach-afghanistan-noch-vertretbar, zul. abgerufen: 16.07.21
https://www.sueddeutsche.de/politik/afghanistan-bundeswehr-ortskraefte-1.5347695, zul. abgerufen: 16.07.21
https://taz.de/Afghanische-Ortskraefte-der-Deutschen/!5786860/, zul. abgerufen: 16.07.21
https://www.zeit.de/2021/29/abzug-afghanistan-bundeswehr-taliban-maedchen-schule-angst, zul. abgerufen: 16.07.21
https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-07/bundeswehr-helfer-afghanistan-bundesregierung-schutzprogramm-aufnahme-visa-ortskraefte, zul. abgerufen: 16.07.21
https://www.sueddeutsche.de/politik/afghanistan-taliban-kundus-vormarsch-1.5355744, zul. abgerufen: 16.07.21
https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/afghanistan, zul. abgerufen: 26.07.21