Es werden wieder Mauern gebaut
An der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus befinden sich aktuell etwa 4000 Menschen. Sie harren unter unmenschlichen Bedingungen aus und können weder vor noch zurück – Polen lässt sie nicht einreisen, Belarus sie nicht zurück ins Land. Wie kam es dazu und was bedeutet das für die EU?
Am 23. Mai diesen Jahres zwang Belarus einen Linienflug zwischen zwei Mitgliedsstaaten der EU zur Landung. Angeblich aufgrund einer Bombendrohung, diese wurde jedoch erst nach dem ersten Kontakt zum Flugzeug an belarusische Behörden geschickt – per Mail. An Bord des Flugzeugs befanden sich ein belarusischer Dissident und seine Freundin, beide wurden nach der Landung verhaftet. Als Reaktion auf die staatlich organisierte Entführung von Roman Protassewitsch sperrte die EU ihren Luftraum für belarusische Fluggesellschaften und bedachte die Diktatur Lukashenkos mit weiteren Sanktionen. Dieser kündigte bereits damals Rache an – von nun an werde sein Land Flüchtende nicht aufhalten, wenn diese in die EU einreisen wollen. Belarus grenzt im Westen an Polen, im Nord-Westen an Litauen. Doch Lukashenko beließ es nicht bei der Drohung. Im Juni berichteten polnische Anwohner erstmals von Geflüchteten, die durch ihre Heimat weiter nach Westen zogen[1]. Der Startschuss einer systematischen Aktion. Das Ziel: die EU schwächen, bloßstellen und testen.
Viele der Flugverbindungen, die Flüchtende Richtung Belarus nutzen, gibt es erst wenige Monate. Die belarusische Fluggesellschaft „Belavia“, ein Staatsunternehmen, gehorcht Diktator Lukashenko. Ebenfalls verdächtig ist, wie gerne Belarus plötzlich One-Way Visa in Richtung Minsk ausstellte, zu teils horrenden Preisen, von denen das sanktionsgebeutelte Land ebenfalls profitiert. Lukashenko lockt also Menschen in prekären Situationen gezielt in sein Land, um sie dann Richtung polnischer Grenze zu schicken. Die sieht mittlerweile nicht mehr nach einer grünen Grenze aus. Über 180 Kilometer erstreckt sich ein Grenzzaun, aufgebaut im Eiltempo von polnischen Sicherheitskräften[2]. Der Sächsische Ministerpräsident Kretschmer deutete unlängst an, dass auch Mauern an EU-Außengrenzen wieder nötig wären.
Was bedeutet das aber für die EU?
Es ist ein Stück weit verständlich, dass auf Erpressungsversuche von Lukashenko – der forderte das Ende aller Sanktionen im Gegenzug für ein Aufhören des staatlichen Schleusens – nicht mit der sofortigen Aufnahme aller Menschen an der Grenze reagiert wird. Ein solches Verhalten würde den Diktator in seiner Absicht bestärken, verletzliche und wehrlose Menschen für die Festigung seines Regimes zu nutzen. Allerdings gilt, wie in einem Beitrag der RLC Dresden auch bereits erläutert wurde, grundsätzlich das Verbot der Ausweisung und Zurückweisung gemäß Artikel 33 der GFK. Bis jetzt weiß wohl niemand, was mit den Flüchtenden passiert, die nicht aus Belarus ausreisen wollen oder können, wie sie dort behandelt werden – es liegt jedoch nahe, dass es ihnen in dieser Diktatur nicht besser geht als der unterdrückten Bevölkerung. Mit der hermetischen Abriegelung der Grenze wird es denjenigen, die auf der belarusischen Seite sind, unmöglich gemacht, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Des weiteren gibt und gab es zahlreiche Berichte über illegale Zurückschiebungen durch polnische Behörden[3]. Zurückschiebungen sind in jedem Fall illegal, da sie Geflüchtet eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens berauben. Das Protokoll Nr. 4 zur EMRK[4] regelt im bemerkenswert kurzen Artikel 4: „Kollektivausweisungen ausländischer Personen sind unzulässig“. Gegen zwei Normen verstößt die Praxis an der Grenze also mindestens. Allerdings hat Polen mehrere Landkreise in Grenznähe für alle außer Einwohnende abgeriegelt, was die Berichterstattung und humanitäre Hilfe erschwert.
Neben der illegalen Praxis der kollektiven Ausweisungen ist auch die zunehmende Militarisierung der Grenze beunruhigend. Während die polnische Regierung 2015 panische Ängste schürte und Migration grundsätzlich als Bedrohung charakterisierte, macht sie nun ernst. An der Grenze zu Belarus, etwa 400 Kilometer lang, sind ca. 12.000 Soldaten stationiert, es fahren gepanzerte Fahrzeuge auf den Straßen im grenznahen Raum[5].
Die EU reagiert auf die Situation an der Grenze bisher mit Verschärfungen der Sanktionen und Schuldzuweisungen in Richtung Minsk. Das ist auch verständlich, schließlich schwingt sich Lukashenko zum Schleuser auf, um die EU zu erpressen. Was jedoch niemand in Brüssel gerne sagt: würde die EU zu den Prinzipien ihrer Verträge und Identität stehen, wäre eine solche Erpressung unmöglich. Die EU ist in diesem Punkt nur verwundbar, weil sie seit Jahren auf eine Politik der Abschottung setzt, die mit der Beschreibung „Festung Europa“ treffend formuliert ist.
Immer, wenn ein Autokrat wie Erdogan oder Diktator wie Lukashenko also damit droht, Geflüchtete in Richtung EU zu schicken, dann sollten wir uns fragen, warum diese Drohung überhaupt wirkt. Würde es ein funktionierendes System der Verteilung innerhalb Europas geben und menschliche Bedingungen der Einreise in die Union, dann würde Minsk nicht auf die Idee kommen, Menschen als Druckmittel zu instrumentalisieren. Lukashenko ist direkt verantwortlich für das Leid der Menschen, ja. Aber es ist bezeichnend für die Politik der EU, dass es funktionieren kann. Seit Jahren stopft die Union jedes Loch in der Außengrenze, durch das Menschen einreisen könnten, so schnell wie möglich. Auch gibt es kein europäisches Einwanderungsgesetz, welches Migration legalisieren und ordnen würde – eigentlich etwas, wonach Europas Politik ständig ruft. Denn nicht alle Menschen an der Grenze sind Fliehende, manche von ihnen wollen einfach ein besseres Leben. Niemand von ihnen hat es jedenfalls verdient, so behandelt zu werden.
Nur durch die Abschottung wird eine Lücke in der Außengrenze erst so interessant, dass Menschen in Afghanistan, dem Irak und Iran und weiteren Ländern bereit sind, alles zurückzulassen, um es zu versuchen. Es ist also die unmenschliche Ausgangssituation, welche die EU selbst geschaffen hat, die Lukashenkos ebenso so menschenunwürdige Erpressung erst ermöglicht. Dem Machtkampf zwischen EU und Lukashenko sind bisher mindestens 11 Menschen zum Opfer gefallen, und der Winter beginnt grade erst[6].
Teil einer größeren Auseinandersetzung
Es geht um mehr als „nur“ die Rechte Geflüchteter – zu denen sich jeder Mitgliedsstaat verpflichtet, genauso wie zu den Menschenrechten. Teil der Strategie der Regierung von Ländern wie Belarus oder Russland ist es, die Grenzen zwischen Demokratien und Diktaturen zu verwischen. Je strenger sich die EU an ihre eigenen Werte und Rechte hält, desto schwerer ist das. Was im Moment an der Außengrenze der EU passiert ist also eine Auseinandersetzung zwischen zwei Systemen. In Warschau zeigt die Regierung Videos, auf denen Männer mit Kühen Geschlechtsverkehr haben, und beteuert, es gehe nicht um Stigmatisierung sondern Fakten. Währenddessen stellt sich Lukashenko vor die Kameras seines Landes und zeigt auf die desaströse Lage der Geflüchteten als Beweis der Doppelzüngigkeit der EU. Was so schlimm daran ist: in diesem Punkt hat er Recht. Die moralische Überlegenheit, das Selbstverständnis aus dem heraus die EU Menschenrechtsverstöße in anderen Ländern anprangert, sie ist in Teilen gerechtfertigt. In Europa können Regierungen abgewählt werden, in Belarus geht das nicht. In Europa gibt es eine unabhängige Justiz, in Russland nicht. Doch der Umgang der EU mit Geflüchteten ist nicht nur beschämend, er macht auch Minsk und Moskau die Argumentation einfacher, dass alles in der EU so lax beachtet wird, wie die Rechte von Geflüchteten.
Die EU steht stets für die Menschenrechte auf, sagt sie. Sie kritisiert Vergiftungen von Oppositionellen in Russland und Entführungen belarusischer Dissidenten völlig zurecht. Doch diese Kritik wirkt lächerlich, wenn an den eigenen Außengrenzen ein Land der Union im völligen Alleingang die Grenze dicht und Asylverfahren unmöglich macht. Das Recht auf Asyl nicht weniger wichtig als eine freie Presse oder unabhängige Justiz. Die EU muss schnellstmöglich alle ihrer Werte auch leben und umsetzen, sonst macht sie es Diktatoren und Autokraten gleich in zweierlei Hinsicht leicht. Die können die Union dann erpressen mit der tatsächlichen Umsetzung eines Menschenrechts, welches die EU in zahlreichen Verträgen verankert hat. Nicht zuletzt wegen dieser Affinität zu Menschenrechten kommen Menschen ja erst in die Union. Und Autokraten können zufrieden auf unseren unmenschlichen Umgang mit Geflüchteten zeigen und die Grenze zwischen demokratischen Systemen, in denen die Menschenrechte eigentlich umgesetzt werden sollten, und ihren Unrechtssystemen in Frage stellen. Die EU droht ihre Fähigkeit zu verlieren, nachweislich menschlicher zu sein, als Europas letzte Diktatur. Das sollte uns allen zu denken geben.
[1] https://www.deutschlandfunk.de/grenze-zwischen-belarus-und-polen-100.html, zul. abgerufen am 19.11.21
[2] https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/belarus-polen-grenze-migranten-fluechtlinge-faq-fragen-antworten-100.html, zul. abgerufen am 19.11.2021
[3] auszugsweise: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-11/fluechtlinge-polnisch-belarussische-grenze-irak-armee-krieg-moral, zul. abgerufen am 19.11.21
[4] Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Protokoll, 1963
[5] s. Fußnote Nr. 3
[6] https://www.nytimes.com/2021/11/16/world/europe/poland-belarus-border-crisis.html, zul. abgerufen 19.11.21